Was Biomechanik mit Krafttraining zu tun hat
2019 kam ich zum ersten Mal in Kontakt mit RTS (Resistance Training Specialist), 2021 organisierte ich mit Hilfe von Michael Bachmann, einem Personal Trainer aus Zürich, den ersten RTS Kurs in der Schweiz (Level I), der mittlerweile schon dreimal stattgefunden hat. 2023 startete ich das Online Learning für den RTS Mastery Kurs, welches mit über 120 Stunden Videomaterial fast ein volles Jahr in Anspruch nahm und Voraussetzung dafür ist, den Kurs in den USA bei Tom Purvis absolvieren zu können. In diesem Blogbeitrag möchte ich in Form von 10 Take-Aways, die ich aus knapp 200 Stunden mitgenommen habe, einen Einblick in die Wichtigkeit von Biomechanik im Krafttraining geben.
Take Away 1: No Soundbites
Die Fitness-Industrie ist voller «Soundbites«, wie sie Tom Purvis nennt. Das sind Aussagen, die immer wieder auftauchen, nicht hinterfragt werden (auch nicht von den Besten) und einfach als ultimative Wahrheit dargestellt und wiedergegeben werden. Zudem wird versucht Dinge als allgemeingültig zu erklären und auf alles mögliche zu übertragen. RTS hat sich deshalb zum Ziel gemacht, Dinge zu hinterfragen, in dem Studien und Literatur auf wissenschaftliche Kriterien überprüft und anhand eigener Tests und mittels physikalischer Prinzipien zu erklären versucht wird. Nicht bloss wiedergeben, sondern nachdenken lautet die Devise.
Beispiele für Soundbites sind: Leg Extension sind schlecht für die Knie, Knie sollen niemals über die Zehen hinausragen, Hip Thrust ist die beste Übung fürs Gesäss oder exzentrisch ist man 40% stärker als konzentrisch.
Take Away 2: Client defined NEXT LEVEL
Alle Personal Trainer schreiben dies zwar auf ihren Websites, doch die wenigsten richten ihre Programme nach den Zielen und individuellen Bedürfnissen ihrer Klienten aus. Oftmals versucht man die Strategien, welche für die eigenen Trainingsziele und Wünsche funktionieren, auf andere zu übertragen. Das «out of the box» Denken und Anpassen von Übungen oder Bewegungsausmass, fortan Range genannt, ist zu umständlich und zeitintensiv. Doch genau so sollte ein Personal Training aufgebaut sein. Zudem gibt es Trainer, die ihren Kunden Übungen geben, die sie selbst niemals ausprobiert und am eigenen Körper gespürt haben. Ich habe dies selbst erlebt. Man meint man trainiert bei den besten Personal Trainern der Welt, aber ihre Programme sind unabhängig von Alter, Anatomie oder Arbeitspensum für alle, die die gleichen Ziele haben (z.B. Muskelaufbau), identisch. RTS hat einen viel umfangreicheren Ansatz, um das Programm wirklich individuell zu machen!
Take Away 3: Assess, but right
Bei RTS werden keine Eingangstests im klassischen Sinne gemacht, da man diese in den seltensten Fällen wiederholt und die meisten davon zudem weder reliabel noch valide und auch nicht standardisierbar sind. Der zu Testende kann zu viel kompensieren und es gibt auch unzählige Gründe, warum jemand eine Übung oder Bewegung nicht machen kann. So gibt es einen aktiven und passiven Range, strukturelle und anatomische Unterschiede oder neuronale Gründe dafür. RTS hat keine Erwartungen bezüglich Ranges, dafür wird jede einzelne Wiederholung immer wieder als Assessment betrachtet und es wird ständig angepasst. Viele von euch haben wahrscheinlich auch schon festgestellt, dass das Bewegungsausmass auch tagesabhängig variieren kann.
Take Away 4: there is no symmetry
Es ist nicht nur so, dass Menschen mit unterschiedlicher Anatomie geboren werden und es unzählige verschiedene Formen von Hüften und Schultern gibt, sondern sich diese im Alter auch verändern. So erstaunt es nicht, dass die linke und rechte Seite oft unterschiedlich aussieht und damit auch ein unterschiedliches Bewegungsausmass einhergeht. Das ist weder falsch noch muss man das „korrigieren» und angleichen. Auch Agonisten und Antagonisten müssen nicht gleich beweglich oder gar gleich stark sein. Das macht biomechanisch keinen Sinn, da beispielsweise Hamstrings und Quads andere Hebelarme und Drehmomente in den jeweiligen Gelenken und Positionen haben und ein- oder mehrgelenkig sein können. Die einfache Annahme, dass bei einem liegenden Leg Curl gleich viel Gewicht bewegt werden soll wie bei der Leg Extension ist komplett falsch.
Take Away 5: Quality not quantity
Der Fokus von RTS liegt auf Qualität, nicht Quantität. Es geht darum die Muskeln innerhalb des möglichen Range des Kunden von Anfang bis zum Ende zu trainieren. Damit das gelingt, darf kein Schwung («Inertia») geholt oder andere Dinge, welche nicht Teil des Übungsziels sind, nicht bewegt werden. Zudem sollte die Geschwindigkeit über den möglichen Range kontrolliert und gleichbleibend sein. Man könnte das mit Mind-Muscle-Connection beschreiben, jedoch wir dieser Ausdruck bei RTS nicht verwendet.
Natürlich wird auch eine Verbesserung von Training zu Training angestrebt, aber Progression muss nicht immer mehr Gewicht oder mehr Wiederholungen bedeuten. Ist die Bewegung «besser» als im letzten Training, so ist dies mindestens so wertvoll.
Take Away 6: Cueing is everything
Damit das Bewusstsein für eine Übung bzw. einen Muskel erlernt bzw. gestärkt werden kann, wird dem Kunden mittels genauer Beobachtung und sogenanntem Cueing (verbal, taktil) geholfen, das zu spüren, was arbeiten soll. Nur durch ein solches Bewusstsein kann verhindert werden, dass das Gehirn für die Bewegung andere als die angestrebten Strukturen einsetzt. Der menschliche Körper ist spitze darin Bewegungen mit möglichst wenig Energieaufwand auszuführen. Das hat überhaupt erst zur erfolgreichen Evolution der Spezies Homo geführt. Dabei ist der RTS-Philosophie sehr bewusst, dass keine einzelnen Muskeln arbeiten, sondern ganze Muskelgruppen inklusive dem Bindegewebe, da für ein Verständnis von Biomechanik genauste anatomische Kenntnisse inkl. Kadaverkurse eine Notwendigkeit darstellen.
Take Away 7: functional training
Es ist schon viele Jahre her, dass der Begriff «Functional Training» die Fitnesswelt eroberte. Seit diesem Zeitpunkt wurden Trainer ganz strategisch davon überzeugt, dass diese Art des Trainings am besten für den Menschen sei. Begründet wurde und wird dies damit, dass diese Bewegungen am alltagsähnlichsten seien und so ein direkter Übertrag von Training in den Alltag möglich sei. Diese Annahme ist leider zu stark vereinfacht und von einer marktorientieren Lobby getrieben. Immer neues Trainingsequipment wird entwickelt und einer grossen Masse zugänglich gemacht. Jeder kann Kettlebells, Minibänder, Suspension Trainer, Balance-Geräte und Medizinbälle kaufen, doch nicht jeder hat Platz und Geld gute Kraftgeräte zu Hause aufzustellen. Zudem kann dieses Equipment einfach auf Sportplätze und Reisen mitgenommen werden.
Doch zurück zur Frage, warum die obige Aussage ein Trugschluss ist. Es ist, wie wenn man eine Uhr nur auf ihre Zeiger reduzieren und die einzelnen Rädchen vernachlässigen würde. Eine langlebige und gute Uhr hat ein bis ins Detail ausgearbeitetes Innenleben. So ist das auch mit unseren Gelenken. Unsere Gelenkgesundheit ist von einer gut ausgebildeten Muskulatur inklusive Bindegewebe abhängig, welche andauernd gegenüber äusseren Kräften standhalten und unsere Gelenke zentriert halten müssen. Somit kann eine Übung in einer Maschine nach den Grundsätzen von Punkt 2 funktioneller sein als ein Squat oder ein Ausfallschritt.
Take Away 8: Strength Profiles
Die so genannten «Strength Profiles» sind ein Herzstück von RTS. Biomechanik und Begriffe wie Masse, Kraft, Torque, Scher-, Hebelkraft und Drehmoment sind notwendige Voraussetzung, um das Thema überhaupt verstehen zu können. So hat jeder Muskel einen Ansatz und einen Ursprung und je nachdem wo und in welchem Winkel sich das Gelenk befindet, eine andere Möglichkeit zur Kraftentfaltung. So gibt es Muskeln die, wenn sie lang sind, stark sind und dann schwächer werden und Muskeln, die im sogenannten «middle range» maximal stark sind. Dies gilt es bei der Übungs- wie auch der Equipment-Auswahl zu berücksichtigen.
Beispiel: ein sehr beliebtes Hilfsmittel nach Schulter-OPs ist das Theraband, obwohl es meistens das ungeeignetste Equipment dafür ist. Dies weil es dann am stärksten zieht, wenn die Muskulatur am schwächsten ist. Dieses Wissen sollte die Basis für alle Trainer sein, wird aber nach meinem Kenntnisstand in keiner Ausbildung gelehrt, weder an der Universität noch im Studium zur Physiotherapie geschweige denn in irgendeiner Personal Trainer Ausbildung. Und dies ist nur ein Beispiel unter vielen.
Take Away 9: Magnitude Profiles
Neben Resistance-Bändern haben auch Kabelzüge und Maschinen Profile. Man nennt sie «Resistance»- oder besser «Magnitude-Profile». Wie Gelenke liegen auch sie all den oben genannten physikalischen Eigenschaften zu Grunde und bewegen ihr Gewicht um Achsen, oftmals auch via Rollen oder so genannte Cams. Dies sind spezielle Rollen, die eine spezifische Form haben und dadurch das Kabel oder den Gurt einer Maschine anderweitig als rund zur Achse umleiten. All das führt dazu, dass das Gewicht an unterschiedlichen Stellen der Übung (und damit des Körpergelenks) unterschiedlich schwer ist. Im besten Fall sollte sich dieses Profil mit dem Kraftprofil des Muskels decken. Leider ist dies ganz selten der Fall und der Muskel wird nicht gleichmässig über den trainierten Range beansprucht. Das ist ein grosses Problem. Der Einfachheit halber nehmen wir wieder das obige Beispiel einer Rotationsbewegung im Schultergelenk. Zieht das Band maximal, wo der Muskel am schwächsten ist, hat man an allen anderen Orten das gleiche (oder im Falle des Therabands sogar weniger, weil es da weniger gespannt ist) Gewicht, obwohl man da mehr bewegen könnte. Das heisst der Trainingseffekt für den ganzen Range, ausser dem Ende, bleibt gering oder ganz aus. Dies zu wissen, sollte doch allen Trainern ein Anliegen sein?
Take Away 10: If You are a trainer you need to be a Resistance Training specialist
In den letzten 11 Jahren habe ich unzählige Ausbildungen gemacht, doch nicht eine war annährend so wissenschaftlich fundiert wie RTS. Bevor Aussagen gemacht werden, wird die ganze Literatur dazu gelesen, kritisch hinterfragt und anschliessend mittels eigener Experimente im Lab untersucht (unsere Gruppe war auch Teil davon). So lautet deshalb die Antwort auf eine Frage oftmals: «it depends», «for who and what goal», «i don’t know». Solche Antworten zu geben, braucht Mut, aber sie zeugen von Ehrlichkeit in einer Fitnesswelt, wo jeder alles zu wissen glaubt. In diesem Sinne gibt es nicht mehr zu sagen als: Will man einen Trainer haben (oder einer sein), der seine Arbeit auf kleinster Ebene versteht und an seine Kunden und deren Ziele anpassen kann, dann führt kein Weg an RTS vorbei.
Quellen
- Exercise Professional, Series 1000-5000 (113 hours), Tom Purvis, Online, USA, 2023-2024
- Mastery Level RTS, 9 Day Course, Oklahoma City, USA, 2024